Filmkritik: Systemsprenger (Kinostart: 19.09.19)

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Gesehen: 2D, deutsch, Kino

… und schon wieder ein Berlinale-Film. Aufmerksame Leser meiner Kritiken wissen, dass ich von der diesjährigen Ausbeute dieser Wettbewerbsteilnehmer äußerst enttäuscht, um nicht sogar zu sagen gefrustet bin. Nach „Synonymes“ und „Ich war zu hause, aber…“ war somit die Erwartung schon mal auf dem Tiefpunkt und doch kam die Neugier ins Spiel, als bekannt wurde, dass Deutschland diesen Film ins Rennen für die Nominierungen der Oscars zum Besten fremdsprachigen Film schicken möchte. Die Welt verkündigte zudem „Der Film ist das Wunder dieser Berlinale.“
Worauf lässt sich der Zuschauer also ein? Vor allem auf eine Gemeinschaftsproduktion mehrerer namhafter Studios sowie eine gerade Mal elf jährige Schauspielerin, Helena Zengel, die trotz ihres Alters schon mehrfach vor der Kamera stand, unter anderem für die Filme „Die Töchter“, „Route B96“ und „Looping“.
Ebenso wie Helena, lernt auch Nora Fingerscheidt stetig dazu. Systemsprenger ist ihr erster Langspielfilm, für den sie nicht nur Regie führte, sondern auch noch das Drehbuch schrieb, für dass sie ganze fünf Jahre lang recherchierte. Dies zahlt sich schon jetzt aus, denn bereits das Drehbuch wurde mehrfach ausgezeichnet, ebenso, wie der Film in den Startlöchern für eine Menge Preise steht.
Anfangs noch unsicher, ob die Hauptfigur Junge oder Mädchen ist, was vor allem aus dem eher männlich aggressiven Verhalten her rührt, macht Professor Dr. Menno Baumann klar, warum „Systemsprenger“ im Gegensatz zu „Systemsprengerin“ der richtige Terminus als Titel für den Film ist: […] es geht hier nicht einfach nur um Benni, sondern der Terminus muss im Plural gedacht werden – angewendet auf alle Akteure des Films gleichermaßen. Denn […] Benni ist kein Fall, sondern ein Kind. Der Fall ist die Gesamtheit an Dingen, die sich mit, um und für Benni ereignen – inklusive überforderter Helfer, zu hoher Fallzahlen in den Jugendämtern, Kommunikationsrituale und -Spielregeln zwischen Schule, Psychiatrie und Jugendhilfe, Personalnot in den Einrichtungen etc.
Als Systemsprenger werden in der Regel Kinder bezeichnet, die einen recht komplizierten Fall darstellen und darstellen und von Familie zu Familie gereicht werden in der Hoffnung einer erfolgreichen Sozialisation.
Der Professor arbeitet an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf im Bereich der Intensivpädagogik und kennt sich daher bestens mit solchen Umgangsproblematiken aus.

Und wenn ich deine Frau und dein Kind umbringe, dann habe ich dich ganz für mich alleine.

Doch wer ist eigentlich die hier mehrfach erwähnte Benni (Helena Zengel)? Sie ist ein neunjähriges Mädchen mit einigen Schwierigkeiten, denn sie ist nicht nur hyperaktiv, sondern auch hyperaggressiv. Dieses unberechenbare Verhalten führte dazu, dass sich ihre Mutter außerstande sah sich weiter um das Mädchen zu kümmern, insbesondere weil sie noch zwei weitere Kinder hat, der sie ihre Kraft schenken muss und sie Sorge um diese hat, was das gemeinsame Aufwachsen betrifft. Aus diesem Grund kümmert sich Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) herzlichst um das Mädchen und vermittelt sie an verschiedene Pflegefamilien und Wohngruppen. Doch niemand schafft es sie zu besänftigen und auf die „richtige“ Spur zu führen.
Als letzte Chance sieht Frau Bafané die Inobhutnahme durch Michael (Albrecht Schuch), einen Anti-Gewalt-Trainer für straffellige Jugendliche. Wird er es schaffen mit Benni zurecht zu kommen und ihr einen alternativen Zukunftsweg zu zeigen?

Nun muss ich einmal mit der deutschen Filmindustrie abrechnen!
Wie kann es sein, dass das gesamte Jahr immer wieder nur bescheuerte Schrottproduktionen in die Kinos kommen, die kein Mensch sehen will und von Jahr zu Jahr schlechter werden, während kurz vor den Oscars dann doch auch mal jemand zeigt, dass das deutsche Kino noch nicht otal verkommen ist und auch unser Land Filme produzieren kann, die ein hohen Realitätsstandart einhalten? Gefühlt erscheint jedes Jahr nur ein einziger Film, der tatsächlich mal von inhaltlicher und filmischer Leistung zeugt und zu etwas zu gebrauchen ist.
Glücklicherweise ist „Systemsprenger“ genau das. Eine Low-Budget-Produktion, die seines Gleichen sucht.
Anfangs noch ein wenig wirr, dauert es ein Weilchen bis die Erwartungen von „Oh Gott, schon wieder ein Berlinale-Film“ in „Wow, was wird das hier gerade für ein Erlebnis“ umschwenken. In kürzester Zeit wird man in die Welt der Protagonistin hinein gesogen und bleibt teilweise völlig fassungslos und erstarrt in seinem Kinosessel hocken angesichts der vollkommen unfassbaren Eindrücke, die dieser Film bietet.
Nicht nur das es geschafft wurde eine glaubwürdige und realistische Extremsituation zu kreieren, die alle Beteiligten an ihre Grenzen führt, sondern dabei auch noch erreicht wurde, dass man das Mädchen, ihre Gefühle und Eindrücke von der Umwelt und ihre Entscheidungen, versteht und sogar nachvollziehen kann.
So schwer der Umgang mit solch einer Charakterperson auch sein mag, so sehr benötigen auch diese Menschen Bezugspersonen, Zuneigung und Freundschaften. Das ist natürlich besonders schwer, da die meisten von uns mit diesen Situationen nicht fertig werden und im Film wird ja deutlich, dass selbst die Spezialisten damit völlig überfordert werden und sind.
Hier wird dem Zuschauer also ein Thema nahegebracht, mit dem er sich wohl in den meisten Fällen noch nie beschäftigt hat und keine Identifikationspunkte findet. Und dennoch begegnen wir alle diesem im alltäglichen Leben und wissen damit zumeist nicht umzugehen. Es wird erreicht, dass sowohl Helfer, die sich in der Materie befinden, als auch Menschen, die mit dem Thema noch nie in Berührung gekommen sind, in den Bann der Handlung gesogen werden.
Doch auch abseits der hervorragenden Story hat der Film viel zu bieten. Nicht nur der hervorragende, wenn auch nicht hochklassig besetzte, Cast wirkt absolut harmonisch und jeder der SchauspielerInnen hat so ziemlich alles aus der jeweiligen Rolle herausgeholt, was überhaupt möglich war.
Auch die technische Umsetzung sitzt exakt auf den Punkt und man lässt immer wieder die Bilder für sich sprechen, ohne alles mit Dialogen zu verschandeln. Natürlich kommt ein Film nur schwer ganz ohne diese aus, doch selbst die vielen geführten Gespräche sind ausgezeichnet geschrieben und verdeutlichen die Verzweiflung der Figuren bestens.
Trotz recht schneller Erzählweise lässt man sich immer wieder genug Zeit für das Wesentliche mit einer ausgeprägten Liebe zum Detail.
Musikalisch wurde eher mit unterschwelligen Sounds gearbeitet, die jedoch bestens auf die Szenerie passten und durch den stark treibenden Charakter die Handlung stets in Fahrt hielten und dafür sorgten, dass nie Langeweile aufkommt. Generell ist stets ein guter Spannungsfaktor gegeben, der dafür sorgt, dass die Neugier überwiegt.
Grenzwertig wird es wieder wenn es um die FSK-Frage geht. Er wird eine FSK 12 erhalten, was angesichts der geschickten Wegblendungen im richtigen Moment akzeptabel wäre. Dennoch werden die gewalttätigen Ausschreitungen der Protagonistin recht hart inszeniert und lassen den Zuschauer angesichts der Skrupellosigkeit zusammenzucken. Erst recht als Bennie ihren Kopf mehrfach gegen eine Scheibe hämmert, ist der Schrecken groß und man fühlt geradezu den Schmerz mit, den das Mädchen in der Situation nahezu völlig ausblenden kann. Diese Extremsituationen unterliegen zwar einer gewissen Natürlichkeit, denen Kinder auch im Alltag begegnen können, dennoch muss der Nachwuchs solche Gewaltausartungen noch nicht zu Gesicht bekommen.
Während der Großteil des Films von Schimpftiraden, Gewalt und psychischen Zusammenbrüchen geprägt ist, zeigt sich zum Ende hin auch eine absolut emotionale Seite, in der vor allem die Versagensangst der Betreuer sowie deren Verzweiflung in den Mittelpunkt gerückt werden.
Zu guter Letzt bleibt ein offenes Ende, dass viel Interpretationsspielraum lässt und einige Fragen offenlässt und sogar aufwirft.
Daher sind wir sehr gespannt, wie ihr das große Finale deuten würdet? Schreibt es gern in die Kommentare oder und eine kurze Direktnachricht.

Humor: 2/10Action: 6/10Erotik: 1/10
Niveau: 8/10Gefühl: 7/10Musik: 6/10
Spannung: 3/10Gewalt: 4/10Idee: 10/10

Gesamtbewertung: 10/10

Viel Spaß im Kino!

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